Die verdammten liberalen Eliten des Carlo Strenger

Alessandro Melazzini
6 min readMay 29, 2021

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Bild © Ofer Chen (CC BY-SA 3.0)

Der Publizist und Psychoanalytiker Carlo Strenger, geboren 1958 in Basel und längst in Tel Aviv tätig, befasst sich in seinen Büchern und Essays vor allem mit schwierigen Fragen der Globalisierung und der sozialen Verwerfungen, die von ihr ausgelöst werden. Aufgewachsen in einer orthodoxen jüdischen Familie, hat er sich später von deren Traditionen entfernt und eher säkularen und laizistischen Positionen angenähert. Nach dem Studium in Zürich und Jerusalem hat er in Tel Aviv und New York gelehrt.

Dieser Lebens- und Arbeitsweg entspricht exakt demjenigen der Protagonisten in seinem letztem Buch, das im Mai auf Deutsch bei Suhrkamp erschienen ist (Diese verdammten liberalen Eliten: Wer sie sind und warum wir sie brauchen). Ein fesselndes Buch, das politische Reflexionen mit Erkenntnissen aus der Psychoanalyse und einem persönlichen Bekenntnis verknüpft.

Ausgangspunkt von Strengers Denken ist vor allem die Überzeugung, dass sich die westlichen Demokratien in der tiefsten Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs befinden.

Und diesmal findet sich der Feind nicht in einer säuberlichen Trennung in zwei Blöcke wie noch zu Zeiten des Kalten Krieges, sondern er lebt und agiert mitten in unserer Gesellschaft.

Es geht um den Populismus, eine manichäische Perspektive auf komplexe gesellschaftliche Verhältnisse, die schlicht “wir gegen “die” setzt, sich um Fakten wenig schert, auf keine zivile Weise argumentieren kann und dennoch in vielen Staaten regiert und dabei versucht, eine “illiberale Demokratie” aufzubauen, um die spöttische Formulierung von Victor Orbán aufzugreifen, einem der schlauesten europäischen Politiker, wenn es darum ging, mit solchen Phrasen die öffentliche Meinung gegen die Eliten und zu seinen Gunsten zu manipulieren. Zumindest vor der Wahl Donald Trumps zum Lenker der mächtigsten Nation der Welt.

In solchen autoritären Unwettern scheint das demokratische und liberale Denken die Orientierung verloren zu haben. Genau so, wie es den Patienten von Carlo Stenger widerfährt, zu denen er Statistiken anführt, um erst einmal zu beschreiben, wer eigentlich zu den liberalen Eliten gehört, die den populistischen Politikern so verhasst sind.

Es ist eine Gesellschaftsschicht, die aus Akademikern, Künstlern und Journalisten besteht, die im Laufe ihrer Leben häufig aus der Enge der Kleinstädte geflohen sind, um sich in den Großstädten der westlichen Welt anzusiedeln, wo das moderne Leben brodelt.

Angehörige dieser Schicht fühlen sich in einem Netzwerk ähnlicher Individuen verbunden, die sich weniger über die Herkunftsbedingungen identifiziert als vielmehr über die gemeinsame Neigung zu individuellem (akademischem) Streben und persönlicher Erfahrungssuche, zu Konkurrenz in der Arbeitswelt und zur Skepsis gegenüber dem Status quo. Akademiker und Arbeitnehmer, die es sich in einem polyglotten Umfeld gemütlich gemacht haben, wenig Zuneigung zu den eigenen familiären und nationalen Wurzeln aufbringen und es sich zur Gewohnheit gemacht haben, kritische Positionen gegenüber Religion und den Traditionen einzunehmen, die sie aus ihrer Jugend kennen.

Der Spott der Politiker über und das Misstrauen ihrer Wähler gegen diese Gesellschaftsschicht — die laut Strenger bereits dreißig Prozent der westlichen Gesellschaften ausmachen, also weit von jeder Elitenbildung entfernt ist — ist keine neue Erscheinung. Schon die deutsche Romantik seit Schiller und Novalis hat, so Strenger, die Überhöhung der eigenen — spirituellen oder geographischen — Heimat geprägt, die sich mit Misstrauen gegenüber dem Anderen, der oft als ein ‚Händler des Geistes‘ angesehen wird, der unfähig ist, die Seelentiefen jenes Volkes zu berühren, das als Gemeinschaft, vereint unter ewigen Werten, mythisiert wird. Kritikpunkte, die im zwanzigsten Jahrhundert mit Thomas Mann und seiner berühmten Abgrenzung der ewige Werte deutscher Kultur vom listigen Geschachere nivellierender ‚Zivilisation‘, mit der die Demokratien Englands und Frankreichs gemeint waren. Ein im Kern illiberales Denken, das zu Beginn auch von Thomas Mann à la Zauberlehrling verbreitet wurde, und das er selbst später bereuen sollte, kurz bevor die Nazis ihn unsanft aus seinem schönen Münchner Haus vertrieben und ins amerikanische Exil zwangen.

Jedoch haben, so die These von Strenger, die Mitglieder der liberalen Eliten in ihrer Unfähigkeit, das Gute in Traditionen und lokalen Bräuchen zu erkennen, einzusehen, wie sehr der gemeine Mann einer Verwurzelung in Traditionen bedarf, in Sitten und Gebräuchen, die seit Jahrhunderten zu sozialen Identitäten der meisten Menschen beigetragen haben, insofern diese sich nicht vom Dorf der eigenen Herkunft emanzipieren wollten oder konnten, haben die Eliten also einen unfruchtbaren und gefährlichen Sinn der Überlegenheit entwickelt, der im Zusammenspiel mit ihrer Neigung zur sozialen Hyperkonkurrenz, gleichzeitig dazu geführt hat, dass die Intellektuellen, Akademiker, Journalisten und Ökonomen, die zu dieser internationalen Gesellschaftsschicht gehören, bei der Masse — die oft zur leichten Beute für politische Ratenfänger wird — verhasst sind. Aber auch dazu, dass sie in persönlich unbefriedigende Situationen gedrängt werden, die einerseits das persönliche Selbstverständnis untergraben und andererseits zu Einsamkeit und Depression führen.

Wer die ganze Welt für seine eigene Wohnung hält, der wird, laut Strengers psychoanalytischer Einsicht, unvermeidlich die eigenen Errungenschaften mit planetarem Maßstab messen, wird sich auf weltweiter Ebene in Konkurrenz begeben, was sehr leicht dazu führt, die eigenen Verdienste geringzuschätzen, auf die man anfangs so stolz war, weil sie mit den eigenen Fähigkeiten und eigener Intelligenz errungen worden waren; ganz gemäß dem meritokratischen Prinzip, dass die Richtschnur für jeden Progressiven darstellt.

Strenger bemerkt, dass eine Neigung zum Liberalen und zur Hochschätzung persönlicher Individualität oft mit einer nicht unbedingt „sozialen“ Persönlichkeit einhergeht, wenn nicht sogar mit Arroganz gegenüber jenen, die als weniger großstädtisch wahrgenommen werden. Eine Abneigung, die mit Leichtigkeit von derjenigen erwidert wird, die sich in ihren Ängsten nicht ernstgenommen fühlen.

Globalisierung, Migration, Automatisierung der Arbeitswelt sind tatsächlich Tendenzen des modernen Lebens, die unumkehrbar sein dürften, aber das Anschwellen der populistischen Welle wurde nicht nur von den Staatslenkern ermöglicht, die einfache Lösungen für komplexe Probleme anbieten, sondern er wurde, wenngleich indirekt, auch von vielen, in aller Regel linken, Intellektuellen begünstigt, die seit Jahren von einem Volks aus idealisierten Individuen sprachen, zugleich aber Abstand von den realen Wählern hielten. Es kann einfach 2019 nicht mehr sein, dass man nicht versteht, dass die politische Botschaft eben nicht als Herablassung von oben wahrgenommen wird, sondern dass sie in dem Bewusstsein dessen formuliert werden muss, dass Menschen keine abstrakten und rationalen Entitäten sind, wie manche Gutgläubige immer noch beharrlich glauben. Übrigens hat das schon Platon eingesehen und in seinen Schriften neben der Vernunft auch ausgiebigen Gebrauch von Mythen gemacht, weil er wusste, dass er seine Leser auch mit Geschichten fangen kann, nicht nur mit Logik und Rationalität.

Um das Bewusstsein des Volkes zurückzuerobern, von dem man angeblich spricht, ist es also notwendig, den Habitus des intelligenten, seelenlosen Technokraten abzulegen und zu lernen, wie man zum Herzen der eigenen Zuhörer vordringt, ihre Ängste vor den Herausforderungen der Modernität dabei ernst zu nehmen.

Sobald man das erreicht, wird man es auch schaffen, die vielen Volkstribune zu entzaubern, die mittels Lügen, Wortklaubereien und Unterschlagungen auf der internationalen Bühne die Stimmen des Wahlvolks erobern.

Welche Mittel haben die Eliten, um eine Schlacht zu gewinnen, die schon verloren scheint? Kultur und Engagement. Engagement für die Ängste ihrer eigenen Wähler einerseits und einen Wandel der eigenen Mentalität andererseits. Schon viel zu lange haben die Intellektuellen die Naturwissenschaften zugunsten der Geisteswissenschaften ignoriert. Und ganz ohne die letzteren kritisieren zu wollen, besteht Strengers Vorschlag doch darin, die Geisteshaltung eher zur Wirtschaft, zu den Naturwissenschaften und zur politischen Wirtschaftsgeschichte hin zu öffnen.

Und außerdem zur Psychoanalyse, möchte man hinzufügen, denn von all dem können die liberalen politischen Eliten etwas lernen, die schon viel zu lange verlernt haben, ihren eigenen Wählern aus der Seele zu sprechen.

Kultur ist kein Luxusgut, unterstreicht Strenger, sondern eine Notwendigkeit als eine Art Gesundheitsdienst für den Staat. Eine Kultur, die fähig ist, von den Geistes- bis zu den Naturwissenschaften den Bogen zu schlagen, die es vermag, die Elfenbeintüre zu verlassen, in die die Kosmopoliten in der Krise sich verschanzt haben, auf dass sie aufs Neue lernen können, zur Welt und von der Welt zu sprechen. Eine Kultur, die es versteht, die Herausforderungen der populistischen Politiker anzunehmen, ohne hingegen vorschnell deren Wähler zu verachten. Eine Kultur, die es vermag, alle gutwilligen Intellektuellen auf die gewaltigen Herausforderungen der Modernität vorzubereiten, und die sie mit Geduld, Demut und Kampfgeist ausstattet.

Carlo Strenger ist überraschend im vergangenen Oktober verstorben und hat große Trauer bei jenen hinterlassen, die ihn schon lange kannten, und auch bei jenen, die ihn, wie ich, erst seit kurzer Zeit kannten. Wir wünschen uns, dass auch dieses letzte Buch von ihm schnell ins Italienische übersetzt wird.

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