Interview mit Imre Kertész

Alessandro Melazzini
10 min readAug 10, 2023

Nachdem ich die italienische Ausgabe von zwei seiner Bücher herausgegeben hatte, traf ich eines Tages vor vielen Jahren den Nobelpreisträger Imre Kertesz (1929–2016) in Berlin. Er hatte die deutsche Hauptstadt als Zweitwohnsitz gewählt, auch angesichts des wachsenden Antisemitismus, den er in Ungarn spürte. Ich traf auf einen freundlichen Menschen, der lächelte und sich für die Kiste Sassella bedankte, die ich ihm einige Zeit zuvor als Geschenk geschickt hatte. Er sagte mir, dass er es sehr zu schätzen wisse. Ich hatte keine Zweifel, sagte ich ihm, schließlich hatten schon Thomas Mann und Hermann Hesse den Rosso di Valtellina gekostet und darüber geschrieben. Ich erwähnte diese beiden Autoren, weil ich wusste, wie wichtig die deutsche Literatur für meinen Gesprächspartner war.

Wir befinden uns in Berlin, nicht weit vom Holocaust-Mahnmal, das von vielen Besuchern als offene Toilette benützt wird. Hätten Sie eine solche Anwendung des Mahnmals für möglich gehalten?

Es war vorhersehbar, dass eine solche Installation zweckfremd benutzt werden kann. Ich weiß es nicht, was ich darüber zu sagen habe. Besser nichts.

Gefällt Ihnen dieses Mahnmal?

Überhaupt nicht. Ich finde es zu monumental. Die Erinnerungen, die ich habe, brauchen keinen großen Raum. Mein Lieblingsmahnmal befindet sich am Wittenberg-Platz. Es ist eine schwarze Tafel. Darauf stehen die Namen der ehemaligen Konzentrationslager. Diese Tafel ist bescheiden, aber ergreifend. Ich sah sie das erste Mal, als ich zum ersten Mal Berlin besuchte. Sie ist unvermeidbar. Ich war davon sehr berührt.

Sie lieben Berlin, auch weil «dich hier wie in New York niemand fragt, woher du kommst». In Ihren Büchern spielt aber die Vergangenheit eine übermächtige Rolle. Sind Sie von Auschwitz und vom «dem Glück des KZs», um Ihren Roman eines Schicksallosen zu zitieren, gefangen?

Ich bin nicht in meine Vergangenheit gesperrt. Ich habe meine Lebensgeschichte und ich hatte das Unglück, in sehr üblen Zeiten leben zu müssen. Nazi-Diktatur, kommunistische Diktatur, viele historischen Wenden, den niedergeschlagenen Aufstand vom 1956, dies alles habe ich erlebt. Das bestimmt noch meine heutige Situation. Cicero hat einmal gesagt, «wer die Geschichte vor seiner eigenen Geburt nicht kennt, der bleibt auf ewig ein Kind». Nicht jeder Schriftsteller beschäftigt sich mit seiner eigenen Existenz, ich bin aber ein solcher. Meine Vergangenheit aufzuarbeiten genügt mir, ich bleibe bei mir selbst.

Wenn Auschwitz Sie «zum Juden gemacht hat», was hat den Besuch des Staats Israels bei Ihnen verursacht?

Als Jude fühle ich eine tiefe Solidarität mit dem Staat Israel. Abgesehen von dieser Solidarität, bin ich aber kein Zionist. Ich bin nicht religiös, ich spreche nicht Hebräisch. Ich bin ein Europäer, der durch Auschwitz Jude und mit Israel solidarisch geworden ist.

Was halten Sie von den Hasstiraden Ahmadinejads gegen Israel?

Ahmadinejad stellt eine neue Wende dar, weil zum ersten Mal seit Langem ein Staat den Antisemitismus auf seine Fahnen geschrieben hat. Damit muss man rechnen.

Was halten Sie von dem Vorschlag der Bundesregierung Deutschlands, Nazisymbole in der EU zu verbieten?

Sie glauben wohl nicht, dass ich zu allen politischen Frage der Welt eine Meinung äußern soll, oder? Dieser scheint mir aber ein guter Vorschlag. Europa besteht aus verschieden Länder und Kulturen, die lockere Beziehungen zueinander pflegen. Ich finde, dass es doch was geben muss, damit eine zentrale Identität für alle Länder besteht. Die europäische Gemeinschaft braucht einen Konsens. In manchen Fällen, denke ich, dass es nötig ist, solche Symbole zu verbieten. Den Rassismus in Italien finde ich zum Beispiel harmloser als denjenigen in Ungarn, wo es zur Zeit wachsende antisemitistische Strömungen gibt. Manche osteuropäischen Länder brauchen manche Verbote.

Deutschland ist das Land, wo Ihre Bücher «zum ersten Mal eine wirkliche Wirkung entfaltet haben». Ihre Texte sind voller Gedanken über Nietzsche, Wagner, Rilke, Jaspers und Kafka. Viele deutsche Autoren haben Sie ins Ungarische übersetzt. Was finden Sie in der deutschen Kultur, das Sie so sehr reizt?

Meine Liebe zur deutschen Kultur hat sich ganz natürlich entwickelt. Als Kind habe ich die Sprache gelernt: Deutsch war obligatorisch als erste Fremdsprache. Später, als ich angefangen habe, Bücher zu lesen und Musik zu hören, habe ich ganz spontan die deutsche Kultur getroffen. Die Bücher Thomas Manns waren die ersten Bücher der westlichen Literatur, die auf Ungarisch erschienen sind. 1954 erschien ein erster Band von Manns Erzählungen. Es war für mich ein großes Erlebnis.

Einmal haben Sie in drei Tagen auf einer Parkbank ein ganzes Buch von Thomas Mann gelesen. Welches Buch war es denn?

Ja ja. So ist es! Das war der Doktor Faustus. Sie müssen sich diese Öde vorstellen, die das sozialistische Verlagswesen war. Und plötzlich kamen die Bücher Thomas Manns. Das hat mich gerührt und erweckt, so zu sagen.

Inwiefern haben Sie es geschafft, die deutsche Kultur zu lieben, obwohl Sie ins…

Ich dachte nie an die deutsche Kultur als deutsche Kultur. Ich hatte mit der Lektüre von Thomas Mann Erlebnisse, die mir eine Welt eröffnet haben, wohin ich eindringen wollte. Und wie Mann selber im Exil einmal sagte: Wo er ist, dort ist die deutsche Kultur. Es ist wahr! Er hat nicht übertrieben. Als ich ihn las, musste ich zuerst im Lexikon nachschlagen, wer die viele Namen waren: Nietzsche, Schopenhauer usw. Ein anderes großes Erlebnis war Albert Camus. Auch durch ihn hat sich eine Welt für mich eröffnet, jedoch eine solche, die für mich schwieriger zu erreichen war. Einerseits las ich nicht französisch, andererseits war für mich diese interessante Pariser Nachkriegszeit sehr fern, praktisch unerreichbar.

Warum ist Ihrer Meinung nach die deutsche Kultur auch außerhalb Deutschlands so wichtig?

Vergessen Sie nicht, dass die deutsche Kultur einen großen Einfluss auf ein breites Territorium genommen hat, von Krakau bis zur Krim, als diese Territorien noch zu der Monarchie gehörten. Es sind Schichten gewesen, die die deutsche Sprache als eine übernationale Sprache benutzt haben, um sich zu verständigen. Ich kann mir zum Beispiel nicht vorstellen, dass Joseph Roth auf polnisch oder Kafka auf tschechisch geschrieben hätten. Das ist ein ganz spezielles und gemeinsames Erlebnis, dass man in Mitteleuropa mittels der deutsche Sprache gehabt hat.

Durch die Deutsche Kultur zum Kosmopolitismus?

Ja. Die italienische und die französische Literatur habe ich z.B. auf Deutsch gelesen.

Mittels der deutschen Literatur haben sie also die Literatur entdeckt. Allein für Hegel, der im Kaddisch bloß mit H. erwähnt wird, haben Sie Wörter voller Verachtung…

Ich mag nicht alles an der deutschen Kultur. Hegel mag ich nicht. Einmal habe ich geschrieben, dass, wenn sich die Marxisten nicht Hegel angeeignet hätten, hätten es die Faschisten aus gutem Grund tun können, z.B. wegen seiner Verherrlichung des Staats. Sonst sind seine Nebensätze manchmal sehr gut.

Wer Ihre Texte liest, weiß, dass Sie eine große Leidenschaft für die Neunte Symphonie Mahlers haben. Warum genau dieses Musikstück?

Ich kann dafür keine rationale Erklärung geben. Einmal habe ich György Ligeti erzählt, dem großen Komponisten, dass ich mir eine Zeit lang immer das Opus 106 „Hammerklaviersonate“ von Beethoven anhören müsste. Er sagte mir, dass er auch eine Periode gehabt hatte, in der er immer nur das Opus 111 spielte. Warum ich jeden Tag das Opus 106 spielen musste, dessen überwältigende Stärke mir immer imponiert hat, das weiß ich nicht. Warum mag ich so sehr Die Neuntevon Mahler? Auch das weiß ich nicht. Ich könnte jetzt über die Genialität Mahlers reden, würde jedoch immer noch nicht wissen, warum ich seine Symphonie so sehr mag.

Vielleicht wegen der Melodie, die am Anfang aufzukommen versucht, während sich immer etwas Konträres entgegenstellt? Das erinnert mich ein bisschen am Fiasko, wo der Schriftsteller ständig zu schreiben versucht, wobei immer etwas dazwischen kommt, das ihn daran hindert.

Ja, es könnte sein! Aber letzten Endes ist meine Beziehung zu dieser Musik eine unmittelbare, deshalb kann ich Ihnen keine richtige Erklärung geben.

Kommen wir zur zeitgenössischen Literatur Deutschlands. Während einer Bielefelder Tagung im Bezug auf Literarischen Antisemitismus nach Auschwitz wurde Bernhard Schlink vorgeworfen, in seinem Beststeller Der Vorleser das Schrecken des Nazismus gemindert zu haben. Kennen Sie das Buch, das inzwischen zur Schullektüre geworden ist?

Ja, ich habe es gelesen. Und es hat mir gut gefallen. Das Kind im Buch hat eine ganz andere Existenz als mein Gyurka erlebt, aber ich teile solche Vorwürfe gegen Schlinks Buch nicht.

Die Abfassung Ihres Roman eines Schicksallosen hat mehr als 10 Jahre gedauert. Warum eine so lange Zeit?

Weil es sehr schwierig war, es zu schreiben. Wegen des Stils. Es ist sehr streng komponiert. Es ist eigentlich keine Erzählung: Der Roman spielt immer in der Gegenwart, wo es einen fortwährenden Druck gibt, zur Sache zu kommen.

Was haben Sie gedacht, als er endlich fertig war?

Ich war ganz zufrieden, da ich das Gefühlt hatte, dass ich ein gutes Buch geschrieben habe. Man kann natürlich anderer Meinung sein, für mich ist es aber ein sehr schwieriges Unternehmen gewesen: Ich habe alle Wörter durchgedacht. Ich bin immer unzufrieden mit meinen Werken, wenn ich aber einmal fertig bin, betrachte ich meine Arbeit als was Fremdes, als eine für mich abgeschlossene Sache, die jetzt unabhängig von mir weiter lebt.

Als der Roman in Ungarn lange mit Schweigen empfangen worden ist, hat Sie diese Rezeption verunsichert? Haben Sie jemals daran gedacht, mit der Schriftstellerei aufzuhören?

Nein. Ich habe einfach gedacht, dass ich mein Werk auf dem Tisch gebracht habe, und jetzt soll ich abwarten. Nach der Veröffentlichung ist der Roman eigentlich verschwunden. Ich habe viele Anrufe bekommen, meistens aber nicht wegen des Buchs an sich, sondern aus Solidarität. Später habe ich aber gehört, dass es auf dem schwarzen Markt mit zehnfachen Preis kursierte. Ich verstand also, dass trotz dem offiziellen Schweigen das Buch lebte und wirkte. Ich habe nie daran gedacht, mit dem Schreiben aufzuhören, wohl aber mehrmals daran, mit keinem Verlag mehr zu tun zu haben.

Im Galeerentagebuch verstehen Sie unter Schicksallosigkeit die Annahme der «uns auferlegten Determiniertheit». Gyurka wird nach Auschwitz verschleppt und findet alles „normal“. Hat Ihr Begriff von Schicksallosigkeit stoische Züge?

Schicksallos bedeutet für mich, Anteil zu haben an dem, was jemandem geschieht. Gyurka möchte sich nicht als bloßes Opfer betrachten, das ganz ausgeschlossen von den Ereignissen ist, die ihm passieren. Indem er Anteil nimmt, befreit er sich selbst. Es hat in der Tat Ähnlichkeiten mit der stoischen Lehre von der Schicksalsanteilnahme. Schicksallos bedeutet nicht, kein Schicksal zu haben, sondern, sein eigenes Schicksals zu akzeptieren und sich mit dem, was man erlebt hat, auseinanderzusetzen, und sich davon zu befreien.

Freiheit durch Akzeptierung dessen, was jemandem geschieht. Ist aber nicht eine solche Einstellung das, was sich jeder Diktator von seiner Untertaten wünscht? Tendiert eine solche Meinung vielleicht zum Lob der Gehorsamkeit?

Überhaupt nicht. Schicksallosigkeit verstehe ich als ein Moment der Aufarbeitung seiner eigenen Vergangenheit, nicht als Lehre zur Passivität. Wenn man einer Diktatur überlebt, geschieht es nur, weil man die Gesetzte dieser Diktatur irgendwie angenommen hat. Ohne das kann man überhaupt nicht weiter leben. Es ist eine Schande der Diktatur, dass jeder, der in einer Diktatur lebt, Anteil an ihr nimmt. Wenn die Diktatur nicht mehr da ist, leugnen dagegen viele, dass sie dabei waren. Doch, man war da. Nicht als Täter, wohl aber als einer, der beteiligt am System gewesen ist. Das muss man erkennen. Wenn ich schreibe, dass nach Auschwitz die Katharsis ausgeblieben ist, meine ich genau dies. Man hat sich entfremdet, ohne anzuerkennen, dass man selbst Anteil an Auschwitz gehabt hat, als ob Auschwitz ein einmaliges fernes Ereignis gewesen ist, das sich nicht mehr wiederholen kann. Doch, das kann mit jeder Generation wieder passieren. Die Trennung zwischen Opfer und Täter existiert wohl, jeder war aber irgendwie existenziell daran beteiligt. Schicksallosigkeit bedeutet, anzuerkennen, dass man dazu gehörte. Die Aufarbeitung seiner eigenen Anteilnahme ist immer ein sehr individueller und schwieriger Prozess.

Schicksallosigkeit als Authentizität sich selbst gegenüber?

Ja, genau das.

«Die heutigen Romane» — schrieb Adorno — «sind Zeugnisse eines Zustands, in dem das Individuum sich selbst liquidiert». Manche Ihrer Charaktere, wie z.b. in Kaddisch oder eben Liquidierung, zeigen eine radikale Ablehnung gegenüber dem Leben. Diese gewisse — mit Thomas Mann zu sprechen — „Sympathie für den Tod“ hängt von Ihren Auschwitz-Erlebnissen ab, oder repräsentiert eher eine pessimistische Grundeinstellung, die Sie ohnehin haben?

Es sind Charaktere, die sich mit ihrem Leben auseinander gesetzt haben. Unter einer Diktatur wird klar, dass man bestimmte Dinge im Leben akzeptieren muss. Das ist eine Schande, die unvermeidlich ist und mit der man sich abfinden muss. Man muss sich über Wasser halten. In einer Diktatur werden bestimmte Handlungen als natürlich betrachtet, und Baudelaire sagt: «Alles, was natürlich ist, ist gemein».

Braucht man eine Diktatur, um eine solche Einstellung von Zerrissenheit zu haben, oder reicht eine Demokratie?

Dieses Gefühl von Gegensätzlichkeit kann auch wegen einer Liebesbeziehung entstehen, wie es im Kaddisch der Fall ist.

Was verstehen Sie unter dem Begriff des Absurden, das ständig in Ihren Romanen auftaucht?

Dass im Leben ständig Situationen passieren, die absurd sind, wobei man dagegen nichts machen kann. Das ist insbesondere der Fall, wenn man eine Diktatur erlebt. Dort werden Tugenden zu Untugenden und umgekehrt, weil man sich mit ihr abfinden muss.

Kafka hat nicht unter einer Diktatur gelebt, und trotzdem das Absurde des Lebens dargestellt. Und Sie leben nicht mehr unter einer Diktatur, wobei Ihre Bücher immer noch das Absurde des Lebens beschreiben.

Eine Diktatur stellt das Absurde des Lebens besonders klar dar, aber die gesamte „Conditio humana“ ist absurd. Und Kafka, der war einfach ein Genie.

Welcher Typus von Mensch ist der in Ihren Romanen so verachtete Moralist?

Der Moralist ist die typische Figur des engagierten Schriftstellers. Einer der z.B. in Ungarn unter der Diktatur Kommunist ist, wobei er von Russland und den Gulags keine Ahnung hat. Er ist einer, der ständig Lektionen erteilt, ohne über sein eigenes Schicksal zu reflektieren.

Ist Günther Grass aufgrund seines Spätgeständnisses über seine Nazi-Jugend ein Moralist?

Darüber weiß ich zu wenig, um etwas zu sagen. Nur eines ist sicher, Günther Grass hat kein Kriegsverbrechen begangen.

Einerseits meinen Sie, wie in der Nobelpreisrede, dass Ihnen die Liebe die Kraft gegeben hat, um am Leben zu bleiben. Andererseits schreiben Sie im Galeerentagebuch, dass «nur der aushält, in dem genug Hass und Verachtung brennt». Auch Gyurka sagt, als er aus dem KZ zurückkehrt, dass er Hass fühlt. Ist Hass eine Gesinnung, die sogar wichtiger als Liebe ist?

Aber nein! Hass bedeutet für Gyurka eigentlich den Skandal, den er gesehen hat. Er sagt auch, dass er Hass fühlt, um absichtlich den Moralisten, mit dem er redet, zu schockieren. Auf Ungarisch unterscheidet man zwischen „Liebe“ und „Amour“. Auf Deutsch nicht. In meiner Rede meine ich mit Liebe eigentlich Menschenliebe. Das, was sich auch bei Dante am Ende der Göttlichen Komödie findet. Das ist die Nächstenliebe, die ich meine. Diese Liebe ist das, was im Leben am meisten hilft.

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